Aṅguttara Nikāya

Das Achter-Buch

11. Die große Durchbrechung

So habe ich gehört. Einst weilte der Erhabene bei Verañjā, am Fuße des Naleru-Pucimanda-Baumes. Da kam ein Brahmane aus Verañjā zum Erhabenen, wechselte mit dem Erhabenen höflichen Gruß, und nach Austausch freundlicher, zuvorkommender Worte setzte er sich zur Seite nieder. Seitwärts sitzend, sprach er zum Erhabenen also:

„Gehört habe ich, Herr Gotama, daß der Asket Gotama alten, ergrauten, angesehenen, hochbejahrten, im Alter gereiften Brahmanen weder seinen Gruß entbietet, noch sich vor ihnen erhebt, noch ihnen einen Sitz anbietet. Und dies, Herr Gotama, verhält sich tatsächlich so; denn nicht entbietet ja der Herr Gotama alten, ergrauten, angesehenen, hochbejahrten, im Alter gereiften Brahmanen seinen Gruß, nicht erhebt er sich vor ihnen, noch bietet er ihnen einen Sitz an. Das aber, Herr Gotama, ist nicht recht.“

—„Nicht sehe ich, Brahmane, in der Welt der Götter, der bösen und guten Geister, samt der Schar der Asketen und Priester, Götter und Menschen auch nur einen, dem ich ehrfurchtsvollen Gruß entbieten und vor dem ich mich erheben und ihn zum Sitzen einladen sollte. Sollte nämlich, Brahmane, der Vollendete irgend jemandem ehrfurchtsvollen Gruß entbieten, sich vor ihm erheben und ihn zum Sitzen einladen, so möchte dessen Haupt in Stücke zerspringen.“

—„Rücksichtslos ist der Herr Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als rücksichtslos bezeichnen; denn jedwede Rücksicht auf Formen, Töne, Düfte, Säfte und Berührungen ist im Vollendeten überwunden, mit der Wurzel zerstört, wie eine Fächerpalme dem Boden entrissen, vernichtet und dem Neuentstehen nicht mehr ausgesetzt. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen: ‚Rücksichtslos ist der Asket Gotama‘; doch nicht wie du es meinst.“

—„Lieblos ist der Herr Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als lieblos bezeichnen; denn jedwede Liebe für Formen, Töne, Düfte, Säfte und Berührungen ist im Vollendeten überwunden, mit der Wurzel zerstört, wie eine Fächerpalme dem Boden entrissen, vernichtet und dem Neuentstehen nicht mehr ausgesetzt. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen: ‚Lieblos ist der Asket Gotama‘; doch nicht wie du es meinst.“

—„Die Untätigkeit lehrt der Asket Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als einen Lehrer der Untätigkeit bezeichnen; denn ich lehre die Nichtausübung eines schlechten Wandels in Werken, Worten und Gedanken, lehre die Nichtausübung der mannigfachen üblen, unheilsamen Dinge. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen: ‚Die Untätigkeit lehrt der Asket Gotama‘; doch nicht wie du es meinst.“

—„Die Vernichtung lehrt der Herr Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als einen Lehrer der Vernichtung bezeichnen; denn ich lehre die Vernichtung von Gier, Haß und Verblendung, lehre die Vernichtung der mannigfachen üblen, unheilsamen Dinge. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen: ‚Die Vernichtung lehrt der Asket Gotama‘; doch nicht wie du es meinst.“

—„Ein Verächter ist der Herr Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als einen Verächter bezeichnen: denn ich verachte den schlechten Wandel in Werken, Worten und Gedanken, verachte die Ausübung der mannigfachen üblen, unheilsamen Dinge. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen: ‚Ein Verächter ist der Asket Gotama‘; doch nicht wie du es meinst.“

—„Ein Verneiner ist der Herr Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als einen Verneiner bezeichnen: denn ich weise die Lehre zur Verneinung von Gier, Haß und Verblendung, zur Verneinung der mannigfachen üblen, unheilsamen Dinge. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen: ‚Ein Verneiner ist der Asket Gotama‘; doch nicht wie du es meinst.“

—„Ein Quäler ist der Herr Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als einen Quäler bezeichnen: denn nieder zu quälen, sage ich, hat man die üblen, unheilsamen Dinge, den schlechten Wandel in Werken, Worten und Gedanken. In wem aber, Brahmane, die nieder zu quälenden üblen, unheilsamen Dinge überwunden sind, mit der Wurzel zerstört, wie eine Fächerpalme dem Boden entrissen, vernichtet und dem Neuentstehen nicht mehr ausgesetzt, den nenne ich einen Quäler. Im Vollendeten nun, Brahmane, sind die nieder zu quälenden üblen, unheilsamen Dinge überwunden, mit der Wurzel zerstört, wie eine Fächerpalme dem Boden entrissen, vernichtet und dem Neuentstehen nicht mehr ausgesetzt. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen: ‚Ein Quäler ist der Asket Gotama‘; doch nicht wie du es meinst.“

—„Ein Ausgestoßener ist der Herr Gotama.“

—„Allerdings, Brahmane, könnte man mich in einer Hinsicht mit Recht als einen Ausgestoßenen bezeichnen: denn für wen der künftige Leibesschoß, die Wiedergeburt, überwunden ist, mit der Wurzel zerstört, wie eine Fächerpalme dem Boden entrissen, vernichtet und dem Neuentstehen nicht mehr ausgesetzt, den nenne ich einen Ausgestoßenen. Für den Vollendeten nun, Brahmane, ist der künftige Leibesschoß, die Wiedergeburt, überwunden, mit der Wurzel zerstört, wie eine Fächerpalme dem Boden entrissen, vernichtet und dem Neuentstehen nicht mehr ausgesetzt. In dieser Hinsicht könnte man freilich mit Recht sagen ‚Ein Ausgestoßener ist der Asket Gotama; doch nicht wie du es meinst.

Angenommen, Brahmane, eine Henne habe acht, zehn oder zwölf Eier gelegt, die sie gründlich bebrütet, gründlich erwärmt, gründlich zur Entwicklung gebracht hat. Dasjenige unter den Küchlein nun, das als erstes mit den Krallenspitzen oder dem Schnabel die Eierschale durchbricht und heil ausschlüpft, hätte man das wohl als das ältere zu bezeichnen oder als das jüngere?“

—„Als das ältere, Herr Gotama; denn es war ja unter ihnen zuerst da.“

—„Ebenso auch, Brahmane, habe ich unter den verblendeten, im Ei der Unwissenheit befindlichen, in ihm eingeschlossenen Menschen die Eierschale der Unwissenheit durchbrochen und als erster in der Welt die unübertroffene höchste Erleuchtung errungen: darum bin ich eben in der Welt der Älteste, der Edelste.

Vollendet aber, Brahmane, war damals meine Willenskraft und ungebrochen, gegenwärtig und ungetrübt meine Achtsamkeit, mein Körper gestillt und unerregt, mein Geist gesammelt und geeint. So gewann ich, Brahmane, ganz abgeschieden von den Sinnendingen, abgeschieden von unheilsamen Geisteszuständen, die mit Gedankenfassen und Überlegen verbundene, in der Abgeschiedenheit geborene, von Verzückung und Glücksgefühl erfüllte erste Vertiefung und weilte in ihr. Nach Stillung von Gedankenfassen und Überlegen gewann ich den inneren Frieden, die Einheit des Geistes, die von Gedankenfassen und Überlegen freie, in der Sammlung geborene, von Verzückung und Glücksgefühl erfüllte zweite Vertiefung und weilte in ihr. Und nach Loslösung von der Verzückung weilte ich gleichmütig, achtsam, klar bewußt, und ein Glücksgefühl empfand ich in meinem Inneren, von dem die Edlen künden: ‚Der Gleichmütige, Achtsame weilt beglückt‘, so gewann ich die dritte Vertiefung und weilte in ihr. Nach dem Schwinden von Wohlgefühl und Schmerz und dem schon früheren Erlöschen von Frohsinn und Trübsinn gewann ich die leidlos-freudlose, in der völligen Reinheit von Gleichmut und Achtsamkeit bestehende vierte Vertiefung und weilte in ihr.

Mit derart gesammeltem Geiste, der geläutert war, rein, fleckenlos, ungetrübt geschmeidig, gefügig, fest und unerschütterlich, richtete ich meinen Geist auf die ‚erinnernde Erkenntnis früherer Daseinsformen‘, Ich erinnerte mich an manche frühere Daseinsformen, als wie an ein Leben, an zwei Leben, an drei Leben, an vier Leben, an fünf Leben, an zehn Leben, an zwanzig Leben, an dreißig Leben, an vierzig Leben, an fünfzig Leben, an hundert Leben, an tausend Leben, an hunderttausend Leben; dann an die Zeiten während mancher Weltentstehungen, an die Zeiten mancher Weltuntergänge, an die Zeiten mancher Weltuntergänge und Weltentstehungen: ‚Dort war ich, solchen Namen hatte ich, solcher Familie und solchem Stande gehörte ich an, solche Nahrung wurde mir zuteil, solches Wohl und Wehe hatte ich erfahren, solches Lebensalter erreichte ich. Von da nun abgeschieden, trat ich dort wieder ins Dasein: dort hatte ich solchen Namen, solcher Familie und solchem Stande gehörte ich an, solche Nahrung wurde mir zuteil, solches Wohl und Wehe hatte ich erfahren, solches Lebensalter erreichte ich. Von dort nun abgeschieden, trat ich hier wieder ins Dasein.‘ So erinnere ich mich an manche frühere Daseinsform, mit ihren besonderen Merkmalen, besonderen Kennzeichen. Dieses erste Wissen, Brahmane, hatte ich in der ersten Nachtwache errungen. Das Nichtwissen schwand, und das Wissen erwachte, das Dunkel zerstob, und das Licht erschien, während ich da also unermüdlich, eifrig und entschlossen verweilte. Dies, Brahmane, war meine erste, große Durchbrechung, gleichwie das Kücklein die Eierschale durchbricht.

Mit derart gesammeltem Geiste, der geläutert war, rein, fleckenlos, ungetrübt, geschmeidig, gefügig, fest und unerschütterlich, richtete ich meinen Geist auf die Erkenntnis des Abscheidens und Wiedererscheinens der Wesen. Mit dem himmlischen Auge, dem geklärten, übermenschlichen, sah ich die Wesen abscheiden und wiedererscheinen, gemeine und edle, schöne und häßliche, glückliche und unglückliche. Ich erkannte, wie die Wesen ihren Taten gemäß wiedererscheinen: ‚Diese lieben Wesen, wahrlich, führen einen schlechten Wandel in Werken, Worten und Gedanken; sie schmähen Heilige, haben verkehrte Ansicht und gemäß ihrer verkehrten Ansicht handeln sie. Beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode, gelangen sie in eine niedere Welt, auf eine Leidensfährte, in die Daseinsabgründe, in die Hölle. Doch jene anderen lieben Wesen führen einen guten Wandel in Werken, Worten und Gedanken; nicht schmähen sie die Heiligen, haben rechte Erkenntnis, und gemäß dieser rechten Erkenntnis handeln sie. Beim Zerfall des Körpers, nach dem Tode, gelangen sie auf eine gute Daseinsfährte, in himmlische Welt.‘ So sah ich mit dem himmlischen Auge, dem geklärten, übermenschlichen, die Wesen abscheiden und wiedererscheinen, gemeine und edle, schöne und häßliche, glückliche und unglückliche; und ich erkannte, wie die Wesen ihren Taten gemäß wiedererscheinen. Dieses zweite Wissen, Brahmane, hatte ich in der mittleren Nachtwache errungen. Das Nichtwissen schwand, und das Wissen erwachte, das Dunkel zerstob, und das Licht erschien, während ich da also unermüdlich, eifrig und entschlossen verweilte. Dies, Brahmane, war meine zweite, große Durchbrechung, gleichwie das Küchlein die Eierschale durchbricht.

Mit derart gesammeltem Geiste, der geläutert war, rein, fleckenlos, ungetrübt, geschmeidig, gefügig, fest und unerschütterlich, richtete ich meinen Geist auf die Erkenntnis der Triebversiegung. ‚Dies ist das Leiden‘, erkannte ich der Wirklichkeit gemäß; ‚Dies ist die Entstehung des Leidens‘ erkannte ich der Wirklichkeit gemäß; ‚Dies ist die Erlöschung des Leidens‘ erkannte ich der Wirklichkeit gemäß; ‚Dies ist der zur Erlöschung des Leidens führende Pfad‘ erkannte ich der Wirklichkeit gemäß. ‚Dies sind die Triebe‘ erkannte ich der Wirklichkeit gemäß; ‚Dies ist die Entstehung der Triebe‘ erkannte ich der Wirklichkeit gemäß; ‚Dies ist das Erlöschen der Triebe‘ erkannte ich der Wirklichkeit gemäß; ‚Dies ist der zum Erlöschen der Triebe führende Pfad‘ erkannte ich der Wirklichkeit gemäß. Also erkennend, also schauend, ward mein Geist befreit vom Sinnlichkeits-Trieb, befreit vom Daseins-Trieb, befreit vom Nicht-wissens-Trieb. Und in mir, dem Befreiten, erhob sich die Erkenntnis des Befreitseins, und ich wußte: ‚Versiegt ist die Wiedergeburt, erfüllt der heilige Wandel; getan ist, was zu tun war; nichts Weiteres mehr nach diesem hier.‘ Dieses dritte Wissen, Brahmane, hatte ich in der letzten Nachtwache errungen. Das Nichtwissen schwand, und das Wissen erwachte, das Dunkel zerstob, und das Licht erschien, während ich da also unermüdlich, eifrig und entschlossen verweilte. Dies, Brahmane, war meine dritte, große Durchbrechung, gleichwie das Küchlein die Eierschale durchbricht.“

Auf diese Worte sprach der Brahmane aus Verañjā zum Erhabenen also: „Der Älteste ist der Herr Gotama! Der Edelste ist der Herr Gotama! Gleichwie man, Herr Gotama, das Umgestürzte wieder aufrichten oder das Verborgene enthüllen oder den Verirrten den Weg weisen oder in die Finsternis ein Licht bringen möchte, damit, wer Augen hat, die Gegenstände sehe: ebenso hat der Herr Gotama auf mancherlei Weise die Lehre enthüllt. So nehme ich meine Zuflucht zum Herrn Gotama, zur Lehre und zur Mönchsgemeinde. Als Anhänger möge mich der Herr Gotama betrachten, als einen, der von heute ab zeitlebens Zuflucht genommen hat.